1 beyazit cami busbahnhof



Reisenotizen

Istanbul

Je näher sich unser Fahrzeug vom Atatürk-Flughafen auf den Stadtkern zubewegt, desto unwirtlicher sehen die Mietskasernen aus. Hier könne man erkennen, wie die Stadt in den letzten Jahrzehnten gewachsen sei, erklärt unser Fahrer stolz mit ausladender Geste auf einige besondere Bauwerke. Die Randgebiete in Flughafennähe bieten noch aufragende Neubauten mit halbwegs ansprechender Optik, ohne jedoch verbergen zu können, dass auch sie eher eine Notlösung zur Bewältigung des akuten Wohnproblems in der wild wachsenden Metropole sind. Wohl 60 Prozent aller Gebäude sollen hier ohne Baugenehmigung entstanden sein. Der dumpfe Schmutz, den der bröckelnde Glanz des prosperierenden Fortschritts in den zentrumsnahen Stadtteil-Siedlungen hinterlassen hat, wird wohl eines Tages auch diese Neubauten am Stadtrand erreicht haben. …
Vorüber geht es an vielen Fahnen, nationalen Symbolen, mit Betonmauern und Stacheldraht umfriedeten Sperrbezirken des Militärs, an zahlreichen Baustellen, dazwischen einige Sichtschneisen, die den Fernblick frei geben auf die im Marmarameer müßig ankernde Armada von Tankern und Containerschiffen, deren Kapitäne auf eine Fahrerlaubnis ums Goldene Horn warten. ... 

Aus dem Fenster des Taxis sehe ich einen recht spärlich bekleideten Mann unbestimmbaren Alters, gegerbte Haut, verkrüppeltes rechtes Bein, auf dem Bürgersteig zwischen den Passanten liegend, sich kriechend voran kämpfend, den Arm ausgestreckt, die Hand zur bettelnden Geste geformt, von der die hektische Menge kaum Notiz zu nehmen scheint. ... Die Armut in dieser Stadt ist lediglich eine alltägliche Begleiterscheinung, so normal wie Essen und Trinken.  Eine Megalopole wie diese ist mithin nichts für empfindsame mitteleuropäische Gemüter, wohl eher etwas fürs Kompensatorische, für den immer wieder duldsamen wie verdrängenden Blick, der lieber aufwärts strebt, als sich den verstörenden Geschichten der Pflastersteine zuzuwenden.
Sie singen ... sie singen das Lied einer zusammengekauert auf dem Gehsteig lagernden etwa Vierjärigen, die unter ihrer pechschwarzen zotteligen Mähne mit großen Mandelaugen um ein wenig versilbertes Mitleid bittet, ... das Lied von denen, die wie Ratten morgens aus ihren Löchern steigen, um sich in irgendeinem Halbdunkel tagelönernd durchzuschlagen, ... das Lied der Nacht, die sie wie die Schlagzeilen von gestern zum welken Schmutz der Stadt entsorgt. …

„In Istanbul bekommst du alles“, erklärte mir einmal ein aus der Türkei stammender Lehrer. Hinter seinen leuchtenden Augen erinnerte er sich wohl an die Verlockungen dieser Stadt, die sich dem Reisenden aufdrängen, wenn er einmal die ausgetretenen Touristenpfade mit ihren Plakatmalereien verlässt, um sich von ihrem „Unterhaltungsprogramm“ mitreißen zu lassen. Eine Reise durch die Nacht in Beyoglu, süß-trunken, Schwindel erregend wie der Tanz der Derwische und gleichsam ernüchternd. „Der Grenzkampf zwischen Ost und West in diesem Land findet sich seit langer Zeit in dieser Stadt.“ (Ahmet Güntan) Was Paris oder Berlin zu bieten haben, gibt es auch hier, nur dass die Gegensätze einer modernen Großstadt im Rhythmus des Lebens auf den Straßen viel greifbarer scheinen. Bei aller Widersprüchlichkeit bleibt Istanbul die vielleicht bitterschönste Stadt zwischen Orient und Okzident. 

Wir kurven durch Yenikapi und Lâleli, durch enge, am Berg aufsteigende Gassen, Häuserschluchten, vorübereilende Menschen, Packträger, zahlreiche Ladenlokale, moderne Mode hinter spiegelnden Schaufensterscheiben. Der Chick sei hier in russischen Händen, wie unser Fahrer bemerkt. Es sind dies sehr geschäftssinnige Ladenbesitzer, die dem Bedürfnis einer teils jungen aufstrebenden Mittelschicht nach europäischer Geschmackskultur entgegen kommen, einst Liebediener des so genannten „Koffertourismus“ der Neureichen aus Osteuropa, die sich hier mit billigen Textilien für den Export eingedeckt haben. Geblieben sind die großen, schlanken, leblosen Schaufensterpuppen im farbigen Abglanz von Armani, Boss, Gucci und Lacoste ..., keines der international gängigen Label sucht man vergebens. Nur die Tulpen haben im Viertel der „Tulpenmoschee“ (Lâleli Cami), dem der Stadtteil seinen Namen verdankt, kaum noch einen Platz. 

9 beyazit6.1Unser Fahrer entlässt uns vor unserem Hotel in die Mittagssonne, dessen Lobby wir über eine breite Treppe und abwärts ins „Erdinnere“ einer Passage, in dem verwaiste Stühle und Tische auf Gäste warten, erreichen. … Das bescheidene Zimmer hat zwar Fenster, die lenken den Blick allerdings in jene Passage zurück, die wir gerade durchquert haben und das Sonnenlicht trübt sich unangenehm an einer milchigen Dachverglasung. Im Übrigen gediegene Eleganz aus falschem Marmor und holzvertäfelten Wänden, der stumme Flügel in einer Nische, der von einem Pianisten träumt, … schließlich ein versöhnlicher „Lichtblick“ im obersten Stockwerk mit seiner Dachterrasse, von der man einen atemberaubenden Panoramablick über den Stadtteil genießt … 

Unser Hotel liegt an der hektischen Ordu Caddesi, einen Steinwurf entfernt von der Beyazit Moschee und der Universität Istanbul. Entlang der Straße auf Hotelseite dicht gedrängter Verkehr, einige Häuserecken weiter Richtung Cemberlita
ş warten die Händler mit ihren Warenbergen aus Handtaschen zu Ramschpreisen, durchwühlt von flink prüfenden Händen kaufwilliger Frauen, Herrenjacken und Hemden, die hier lauthals feil geboten, immer wieder Billigimitate von Parfüm, die den Touristen erwartungsvoll entgegen gereckt werden, Autohupen, ineinander verkeilte Kraftfahrzeuge. Der atemberaubende Abgasgestank vermischt sich mit dem Duft frischer Sesamkringel, Fluchen, Schreien, Stoßen, wild gestikulierende Händler, feilschend-konkurrierendes Stimmengewirr, Unmengen an Verpackungsmüll und Abfallresten, die in große Plastiksäcke wandern oder auf dem Platz des nahen Busbahnhofs Beyazit in eine der Sammeltonnen, die am Abend wiederum von Straßenkindern nach Brauchbarem durchsucht werden. Ein nimmer ermüdender Kreislauf, in dem die Ärmsten der Armen aus dem Müll noch Brauchbares fischen, das sich gegen eine warme Mahlzeit eintauschen lässt. Man sieht Mütterchen, die sich nicht zu schade sein dürfen, ihre alterszerfurchten Hände für eine milde Gabe aufzuhalten, Geschäftsleute, die es eilig haben, voran zu kommen, schmale und fahle Gesichter, Handygeklingel, verirrte Mövenschwingen vor blauem Himmel, das Rotgold der Sonne am späten Nachmittag.





Der Große Bazar, Kapali Çarşi

„… die Schaufenster-Qualität der Dinge“
(G. Simmel) 

Die seriösen Händler erkennt man hier am fehlenden „Außenpersonal“, das wie seismographische Auguren Blickkontakt mit dem Publikum hält. Wer sich mit ahnungslosem Interesse auf ein Objekt seiner Begierde zubewegt, wird recht bald in die Höhle des Löwen komplimentiert. Am Besten schaut man einfach unverfänglich in eine andere Richtung oder setzt im Gedränge beherzt seinen Weg fort, als gelte es, im dichtesten Berufsverkehr die Champs-Élysées unversehrt zu überqueren. Schlendern, Schauen und Staunen ist für die Menschenfischer in diesem unterirdischen Reich ein sicheres Anzeichen kauffreudiger Naivität, die sie geradezu reflexartig ihre fein gesponnenen Netze auswerfen lässt, um die urlaubsbraune und kamerabehangene Beute wortgewandt in das Innere des Ladenlokals einzuholen. 

20 eminn-ankara-cad.22.1.nikDie reichen Fanggründe wiederum machen einen deutlichen Effekt auf das zur Schau gestellte: Das augenscheinliche Überangebot verflüchtigt sich im seriellen Charakter der zumeist industriell erzeugten Waren. Billiges Allerlei, auch geschickt gefälschte Markenware scheint hier auf einfühlsame Weise einer Tourismusindustrie entgegen zu kommen, die ihre Klientel in zahllosen Autobussen wie zur finalen Verkaufsorgie bei einer Kaffeefahrt vor die Tore dieser Plaisirkavernen befördert. Wer im Reich des Handels und des Wandels unter Tage authentische Arbeiten des traditionellen Handwerks und feinsinnig-künstlerische Werke zu ergattern sucht, erhält zumeist nur Beifall heischendes Kunstgewerbe, viel Kitsch und wertlosen Tand, dem mit einiger Mühe eine verlockend polierte Außenseite verliehen wurde. Zwischen Teppichbergen, bunten Tuchstapeln, Jeans, Armbanduhren, Handtaschen, den unzähligen Auslagen von Armreifen, Ketten und Ringen, bekommt man einen Schwindel erregenden Eindruck von der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Durch dieses phantastisch-verlockende Labyrinth bewegt sich ein Völkergemisch, dem aus diesem Zauberreich wohl allenfalls ein befremdliches Esperanto aus Haben und nicht Sein in die käufliche Seele steigt. Es ist jene zudringlich mystisch-dunkle Schönheit aus 1001 Nacht,  halbseidenem Farbenzauber, Begehrlichkeiten aus Gold und Silber, leuchtenden Ampeln, betörenden Düften, aus dem ewigen Gemurmel und Marktscheierischen, das unter den so hübsch ornamentierten Gewölben dieser scheinbar untergründig tief abgründigen Stadt in der Stadt zu einer merkwürdig befremdlichen und gleichwohl anziehenden Melange zusammenschießt, die den Besucher unmerklich immer tiefer in die Kapillare dieses pulsierenden Labyrinths hineinzieht. 
Am Besten betritt man einen dieser Bazare am frühen Morgen, vor den Touristenbussen mit ihren Hundertschaften. ...

- Fortsetzung folgt -